Silvia Noronhas Steine der Zukunft
Zu Silvia Noronhas Atelier mitten in Neukölln können wir bequem laufen, denn es ist direkt ums Eck von unserer Schule. Das Atelier ist aufgeteilt wie eine kleine Wohnung – drei Zimmer, Küche, Bad –, die Silvia sich mit zwei anderen Künstler*innen teilt.
Silvias Atelier-Zimmer sieht aus wie eine Mischung aus Schatzkammer und Labor: Überall funkeln Steine in unterschiedlichen Farben und Formen. Scheinbar flüssig- und dann wieder festgewordenes Glas zieht sich über den Tisch vorbei an gläsernen Fläschchen, die mit geheimnisvollem Sand gefüllt sind. Daneben beugen sich Lupen über Glasschalen, um deren Inhalt scheinbar kritisch in den Blick zu nehmen. Wir wuseln im Atelier herum, dürfen das meiste sogar anfassen und löchern Silvia direkt mit unseren Fragen: Wo kommen die Steine her? Warum sind sie so bunt? Und was macht Silvia dort in dem Video, das auf ihrem Laptop läuft?
Eine der Geschichten, die sich hinter den verschiedenen Steingruppen verbirgt, verrät sie uns: Das Video zeigt Silvia in Brasilien (wo sie auch geboren ist), in dem Dorf Bento Rodrigues. Dort ist vor einigen Jahren ein Staudamm gebrochen, der ursprünglich dazu gedient hat, eine konzentrierte Brühe giftiger Bergbauabfälle zurückzuhalten. Der Zusammenbruch des Damms entließ das vergiftete Wasser in die umliegende Natur und verursachte damit die weltweit zweitschlimmste Umweltkatastrophe dieser Art. Silvia hat die Erde, die sich mit der giftigen Masse vermischt hat, vor Ort untersucht und unter hohem Druck und besonders heißen Temperaturen in Stein verwandelt (in der echten Natur findet dieser Prozess tief unter der Erdoberfläche statt und dauert sehr, sehr lange). Auf diese Art und Weise hat sie Steine der Zukunft hergestellt, die nicht mehr nur natürliche, sondern auch menschengemachte, künstliche Bestandteile – also die giftige Brühe – enthalten. Das erklärt, warum die Steine in Silvias Atelier so bunt sind. Neben der Naturkatastrophe in Brasilien bilden sie ab, was wir heute auf der Erde finden: In manche Steine ist Plastik, Glas oder anderes Material eingeschmolzen. Silvia erklärt uns, dass Steine in Zukunft vermutlich so oder so ähnlich aussehen werden, weil diese Materialien heutzutage überall in die Erde gelangen. Deswegen findet sie Steine auch so faszinierend: Sie funktionieren wie Speicher unserer Geschichte, unseres Alltags und der Dinge, die uns umgeben. Und falls in einigen Billionen Jahren vielleicht keine Menschen mehr auf der Erde leben und der Planet von Aliens entdeckt wird, können sie – wenn sie sehr schlau sind – unsere Geschichte anhand der Steine nacherzählen.
Silvia liebt es mit unterschiedlichen Materialien zu experimentieren. Ein Experiment ist für sie ein Prozess, bei dem am Ende etwas ganz anderes herauskommen kann als das, was man eigentlich erwartet hat. Das Ergebnis kann dabei aber genauso schön oder interessant oder sogar noch schöner sein als das, was es hätte werden sollen. So funktioniert Kunst für Silvia: Vieles hat mit einer Offenheit dem gegenüber zu tun, was wir in Zusammenarbeit mit der materiellen Welt produzieren.
Auch wir dürfen jetzt experimentieren und sammeln in Silvias Hinterhof unterschiedliche Dinge: Papierschnipsel, Steine, Blätter und Stöcke legen wir mit Silvias Hilfe in eine salzhaltige Flüssigkeit. Dabei erklärt sie, wie sich das Salz mit der Zeit an den Gegenständen ablagern wird und somit ganz verschiedene Kristalle entstehen werden! Schnell wird uns dabei klar, dass Experimente häufig nicht nur verschiedenes Material, sondern vor allem sehr viel Geduld erfordern. Silvia verspricht uns aber, dass wir unsere Kristalle zum Abschluss des Projektes bekommen. Sie ist selbst schon ganz gespannt, wie sie aussehen werden. Genauso, wie Gestein die Menschheitsgeschichte speichert und Wissenschaftler*innen mit dessen Hilfe in die Vergangenheit schauen können, werden die Kristalle ein Erinnerungsspeicher für unseren Besuch bei Silvia sein. Ganz sicher werden sie schön aussehen... und funkeln!