Der Alltagszauber der Karin Sander
Kaum haben wir das große und helle Atelier von Karin Sander in Moabit betreten, tönt eine Kinderstimme durch den Raum: „Wir sind bei einer Kistenkünstlerin!“ Und die Stimme hat nicht ganz unrecht, denn das Atelier ist gefüllt mit hölzernen Transportkisten. Man könnte meinen, die Stimme kommt aus einer der Kisten, denn ein Kind ist nicht zu sehen. Wobei – da hinten bewegt sich was! Zwischen den Holzkisten kann man sich ganz herrlich verstecken und Fangen spielen. Abgesehen davon hängen in dem großen Raum einige vertrocknete Gemüse an der Wand und Glasgebilde, die aussehen, als würden sie von einem Metallstab runterfließen. Und eine wirklich riesige Tür gibt es auch, die in Karins Lager führt.
Nachdem wir den Raum ganz genau inspiziert haben, wollen wir von Karin wissen, warum hier so viele Transportkisten stehen – große und kleinere, lange und breite. Die Künstlerin erzählt uns, dass die Kisten nicht nur Verpackung, sondern Kunstwerke sind. Sie sind gerade aus einer Ausstellung in einer Galerie zurückgekommen, wo sie genauso im Raum verteilt standen. Jetzt warten sie darauf, an den nächsten Ort zu ziehen. Karin fragt uns, ob wir uns vorstellen können, was sich in ihnen befindet. Wir raten: Figuren oder Skulpturen, Gemälde oder Bildmaterial? Ganz falsch liegen wir nicht, denn in jeder Kiste befindet sich eine ganze Ausstellung. In der Galerieausstellung konnte man also 23 Ausstellungen in einer sehen, dank der 22 Kisten. Als Ausstellungs- oder Atelierbesucher*in erfährt man, wie die jeweiligen Kisten-Ausstellungen heißen (unter anderem Clip Chip 4 oder Chrome Blade 15) und was für Materialien in ihnen verpackt sind (zum Beispiel Glas, Metall, Papier) – einen Blick ins Innere kann man aber nicht erhaschen. Wenn Menschen eine davon kaufen, gehen sie ganz unterschiedlich mit den Wunder-Kisten um: Manche wollen ihre Ausstellung sofort sehen und auspacken, andere lassen sie für immer unberührt und erfreuen sich an dem Gedankenspiel, der anhaltenden Spannung: Was erwartet mich im Inneren? Was würde ich mir wünschen? Und will ich den Inhalt wirklich sehen? Wir kennen das Problem von Kinder-Überraschungseiern und diskutieren darüber, wie wir es selbst handhaben würden. (Die meisten würden auch warten und die Kiste erst öffnen, wenn die Vorfreude zu groß wird.)
Apropos Warten: Das Gemüse an der Wand sieht so aus, als würde es dort schon zu lange hängen (zumindest um es zu verzehren). Warum hat Karin es an die Wand genagelt? Es fasziniert sie, dass ein Bild allein dadurch entsteht, dass eine Stange Lauch oder ein Brokkoli an der Wand hängt. Ganz direkt stellen die Lebensmittel sich selbst dar, genauso wie ihren Verfall und den Prozess, der dahin geführt hat. Gleichzeitig erinnern sie auch an die gemalten Stillleben alter Meister, die opulente Obstkörbe und Tafeln zeigen, die natürlich für immer frisch bleiben.
Am faszinierendsten finden wir die scheinbar davonfließenden Glasobjekte. Und auch Karin schwärmt vom Entstehungsprozess: wie das flüssige Glas bei 1600 °C in großen Öfen kocht, wie man etwas davon mit einem Metallstab aufnehmen kann, es an der Luft innerhalb von Sekunden zähflüssig wird und erkaltet (und dennoch weiterhin ultraheiß ist), wie man es formen oder die Beschaffenheit und Materialität des Glases sichtbar machen kann, so wie bei Karins Gebilden an der Wand. Dabei überlegt sie sich nicht, wie das Glas am Ende aussehen soll, sondern lässt es einfach die Form finden, die das Material selbst anstrebt. Im Anschluss muss es ganz langsam über 24 Stunden abkühlen, sonst macht es ein unheilvolles Geräusch – und zerplatzt. Karin hat aber auch schon viele runde Weihnachtskugeln aus Glas geformt, die entweder ganz schwer und massiv sind oder federleicht, hohl und sehr filigran. Die sind auch toll!
Wir fragen Karin nach ihrem allerersten Kunstwerk. Das entstand 1962 (da war sie erst 5) und ihre Mutter hat Karins Performance „Wasser zählen“ sogar fotografiert. Die schwarz-weiß Fotos zeigen die junge Künstlerin, die ganz konzentriert Wasser aus einem großen Eimer mit einem kleinen Kännchen in einen Kanister umfüllt und dabei zählt.
Noch heute ist Karin so konzentriert bei der Arbeit und noch immer widmet sie sich oft ganz alltäglichen Dingen und Materialien. Ein gerahmtes Bild im Atelier zeigt zum Beispiel eine auf ein Papier getackerte Plastiktüte (Warum? Weil sie eine schöne Farbe hat, ganz einfach). Andere hat Karin mit unterschiedlichen Büromaterialien gemacht – Büroklammern, Locherkonfetti, Kugelschreibern. Künstlerische Arbeit ist für sie immer ganz frei, sagt Karin. Man begibt sich in gewisser Weise auf eine Reise, erlebt sehr viel Schönes auf dem Weg – und weiß davor nie, wie die Reise ausgeht oder wohin sie führt. Deswegen findet Karin, soll man einfach weiterarbeiten, wenn man keine Ideen hat, denn irgendwann kommen schon neue Ideen. Ganz von alleine. Und was bietet sich Naheliegenderes an, als sich (neu) mit den Dingen auseinanderzusetzen, die einen sowieso schon umgeben? Das hat viel mit Wertschätzung zu tun, einem wachen Blick und großem Interesse für die eigene Umgebung.
Inspiriert von Karins Arbeit dürfen wir mit ihrer Sammlung an Büromaterialien unseren Ideen freien Lauf lassen. Aus Klebepunkten werden Raupen, Weihnachtskugeln, abstrakte Muster. Aber auch die Bonbonverpackung findet den Weg auf unsere Karten, außerdem kleine Glitzerpompons und ein Meer an Linien. Wir könnten ewig so weiter machen, müssen uns allerdings schon wieder verabschieden. Am liebsten würden wir uns wieder hinter den Kisten verstecken, um noch länger bleiben zu können, aber leider kennt unsere Lehrerin das Versteck schon. Wir müssen wohl wiederkommen!