Die Notwendigkeit der Kunst mit Konstantino Dregos
Wir sitzen gespannt im Morgenkreis und beobachten aus dem Augenwinkel, wie Klebefolie mit tafelähnlicher Oberfläche an den Glaswänden der Ephra Etage angebracht wird. Machen wir heute etwa Unterricht? Wie in der Schule? Nein, nicht ganz.
Es ist ein sonniger, fast heißer Mittwoch und heute besucht uns der Künstler Konstantino Dregos. Mitgebracht hat er Bücher, in denen verschiedene Kunstwerke von ihm abgebildet sind, und Kreide. So ganz lässt uns das Gefühl von Unterricht noch nicht los. Als Konstantino uns mehr über sich, sein Leben und seine Kunst erzählt, wird uns schnell klar, dass es heute viel ums Denken, aber auch ums Fühlen gehen wird und um Dinge, die schwer in Worte zu fassen sind.
Konstantinos Weg zur Kunst ist ein ganz besonderer. Vor vielen Jahren wurde er unschuldigerweise wegen Diebstahls verhaftet und musste für neun Monate ins Gefängnis. Dort waren neben seinen eigenen Gedanken und Gefühlen, Stift und Papier seine treuen Begleiter. Kunst hat er nie gelernt. Für ihn ist Kunst unumgänglich – etwas, das sehr plötzlich als ein Gefühl aufploppt und sofort in ein Kunstwerk übersetzt werden muss. Konstantinos Kunstwerke sind meistens großformatige Leinwände, auf die er mit verschiedenen Stiften, Kreiden oder Pinseln abstrakte Formen malt und zeichnet. Dabei kann es passieren, dass er drei, manchmal auch fünf Tage weder schläft noch isst. Mucksmäuschenstill muss es dann sein. Wenn seine Nachbarn zu laut sind, kann er sehr sauer werden, erzählt er uns lächelnd. Wann er fertig mit einem Bild ist, folgt keiner logischen Regel, sondern eher einem Gefühl. In Worte fassen kann er dieses Gefühl aber nicht. Das fertige Bild packt er dann unter sein Bett oder in eine große Kiste. Anschauen möchte er das dann erstmal nicht mehr. Nachdenklich fragen wir, ob ihm Kunst auch Spaß macht, worauf er klar mit „Nein“ antwortet: „Skateboarden macht Spaß, Kunst ist für mich eine Notwendigkeit.“
Puh, nach so viel Nachdenken über Kunst brauchen wir erst einmal eine Pause und lassen all unserer Energie freien Lauf. Wir machen genau das Gegenteil von dem, was Konstantino braucht, um Kunst zu machen: hemmungslos laut sein!
Danach wollen wir weiter verstehen, welches Gefühl Konstantino zum Kunstmachen bewegt. Können wir das auch fühlen? Um diesem Gefühl näherzukommen, machen wir einen kleine Übung. Ohne Pause sagen wir alle gleichzeitig das Wort Baum:
Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum, Baum…
Während der Übung wird uns bewusst, dass dieses Wort bei seiner ständigen Wiederholung seine Bedeutung verliert. Das Wort, das wir eigentlich in unserem alltäglichen Sprachgebrauch verwenden, klingt plötzlich ganz fremd und komisch. Der Baum ist nicht mehr nur Baum, sondern eine Aneinanderreihung einzelner Klänge und Laute. Das Wort Baum hat sich aufgelöst.
Als nächstes malen wir alle genau den Baum an die Tafel, an den wir denken, wenn wir uns das Wort Baum vorstellen. Schnell wird offensichtlich, dass unsere Bäume alle ganz unterschiedlich aussehen. Manche Bäume haben ein ausgeprägtes Wurzelwerk, andere eine riesige Baumkrone oder einen geraden Stamm, wiederum andere haben viele verzweigten Äste. Kein Baum gleicht dem anderen. Wir finden es sehr spannend diese Unterschiede so zu sehen und wahrzunehmen. Konstantino fragt uns, ob die Bäume, die wir auf die Tafel gemalt haben, genauso aussehen wie die, die wir in unseren Gedanken hatten. Außerdem bemerken wir, dass keiner der verschiedenen Bäume auf der Tafel so aussieht wie die Bäume, die wir von draußen kennen. Konstantino erklärt uns, dass Gemaltes immer eine Zusammensetzung aus Erinnerungen und Interpretation von etwas Realem und einem Gefühl ist. Konstantinos Kunst entsteht nach einem ähnlichen Prinzip. Seine abstrakten Bilder sind immer der Ausdruck eigener Erinnerungen und eigener Interpretation von Gesehenem und Gefühlen. Das Abgebildete hat seine eigene Sprache, die niemand sonst übersetzen, sondern nur interpretieren kann. Nach und nach bemalen wir mit Konstantino die ganze Tafel. Dabei leitet uns nur das Aufploppen, von dem er am Anfang gesprochen hat. Ein Kind sagt: “Abstraktes Malen macht Spaß! Ich male, was ich fühle, nicht wie beim Schreiben, wo ich immer nachdenken muss. Hier muss ich gar nicht denken.” Zum Schluss staunen wir nicht schlecht, was für ein tolles Kunstwerk zusammen mit Konstantino entstanden ist. Wir bemerken, dass wir in den letzten Stunden wirklich viel nachgedacht, gefühlt und gesprochen haben. Trotzdem war es ganz anders als in der Schule. “Es ist interessant, mal nicht Kunst zu machen, sondern nur darüber zu reden. Das habe so noch nie gemacht”, fasst eine von uns die letzten Stunden zusammen – und da können wir anderen nur alle nur zustimmen.