Von Körpern und Spuren bei Nicole Wendel

Nicole Wendels Atelier ist am Rand von Berlin, in einem alten Fabrikgebäude aus Backstein mit hohen langen Fenstern und einem noch höheren und längeren Schornstein. Doch von Fabrikarbeit ist nicht mehr viel zu spüren – heute ist es hier deutlich ruhiger als in der sonst so wuseligen Stadt. Aber die ganz große Ruhe kehrt erst ein, nachdem wir die unzähligen Stufen zu Nicoles Atelier erklommen haben. Der Raum ist hell und leise und das liegt sicher auch an Nicole, die ganz herzlich strahlt und bedacht spricht, so dass man ihr gut zuhören kann.

Kinder der Ephra-unterwegs Gruppe sitzen vor großen schwarz-weißen Zeichnungen an den Wänden der Künstlerin Nicole Ruhe.
Die Künstlerin Nicole Ruhe erklärt den Kindern der Ephra-unterwegs Gruppe, warum sie in ihren Zeichnungen fast keine Farbe benutzt.

Als wir uns umgucken fällt uns auf, dass nicht nur der Raum und Nicole Ruhe ausstrahlen, sondern auch etwas an den großen Zeichnungen an den Wänden. Zwar sind sie oft wild und voller Bewegung, aber eines haben sie gemeinsam: Sie sind alle schwarz-weiß. Und noch mehr: Bis auf einen bunten Teppich entdecken wir fast keine Farbe im Raum! Als wir Nicole fragen, warum das so ist, antwortet sie, dass sie manchmal so viel sieht und wahrnimmt, dass es dann eine Erleichterung ist, wenn sie nicht auch noch über Farben nachdenken muss. Dann wird die Welt ein bisschen einfacher. Wir lassen nicht so schnell locker und finden schließlich heraus, dass sie schon mal ein paar kleine Bilder in Blau gemacht hat. Sie sagt das ein bisschen so, als wäre es noch geheim. Aber sie verspricht uns Bescheid zu geben, wenn sie mal so richtig was mit Farbe macht. Das fänden wir schön.

Die Künstlerin Nicole Ruhe zeigt den Kindern der Ephra-unterwegs Gruppe ihre Kunstwerke.

Nicoles Zeichnungen zeigen keine Gegenstände oder Personen, sondern Spuren von den Bewegungen ihres Körpers. Das erste Mal hat sie über Spuren nachgedacht, also sie noch sehr jung war: Sie ist Linkshänderin und hat lange ausprobiert, wie sich ein Strich verändert, wenn sie ihn mit links oder mit rechts zeichnet. Der Strich wurde dann zu einer Spur, an der sie auch im Nachhinein noch ablesen konnte, von welcher Hand sie stammt. Schließlich ist unser Körper an allem beteiligt, was wir tun.

Inzwischen zeichnet Nicole nicht nur mit ihren Händen. An der Wand sehen wir eine große Arbeit, die aus vielen Fußabdrücken besteht. Als wir fragen, was das zu bedeuten hat, zeigt Nicole uns eine Meditation, bei der man Schritte nach vorne, hinten und zur Seite macht. Damit kann sie gute Gefühle und Erinnerungen zu sich holen und diejenigen wegschieben, die sie hinter sich lassen möchte. Die Spuren dieser Meditation, also die Schritte, werden durch zahllose Fußabdrücke auf dem großen Blatt sichtbar. Auf diese Art zeichnet sie auch Träume, Tänze und andere Bewegungen und hält somit kurze und lange Zeitspannen in vielen Schichten auf einem Bild fest.

Kinder der Ephra-unterwegs Gruppe interviewien die Künstlerin Nicole Ruhe über ihre Herangehensweise an das Zeichnen.
Kinder der Ephra-unterwegs Gruppe stehen vor einer langen Papierbahn und spüren ihren Körper.

Wir wollen gerne wissen, wie sich das anfühlt – und schon stehen wir vor einer langen Papierbahn und spüren unseren Körper: Er macht Geräusche, wenn wir ihn abklopfen; unsere Haut wird warm, wenn wir sie reiben; und auch wenn wir unsere Augen schließen, können wir etwas sehen. Das malen wir dann ohne hinzugucken, was am Anfang gar nicht so einfach ist, aber nach und nach verschiedenste Formen annimmt. Darüber zeichnen wir später die Strecken, die wir am Morgen zurückgelegt haben, vom Bett bis ins Atelier. Die Wege sind lang, kreuzen sich und verändern sich im Entstehen, weil wir aufeinander reagieren, uns gegenseitig ausweichen oder übereinanderklettern müssen. So werden nicht nur unsere Erinnerungen, sondern auch unsere Begegnungen und Bewegungen sichtbar. Die Begegnung mit Nicole nehmen wir mitsamt unserem bunt leuchtenden Bild mit nach Hause und stellen uns beim Rausgehen vor, wie unsere Schritte farbige Spuren hinterlassen, die sich gleich in langen Linien durch die Stadt schlängeln werden.

Kinder der Ephra-unterwegs Gruppe zeichnen mit Buntstiften lange Linien auf weiße Papierblätter.
Kinder der Ephra-unterwegs Gruppe zeichnen mit Buntstiften lange Linien auf weiße Papierblätter.
 
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