Hörende Steine und singende Kleider bei Ayumi Paul
Ayumi Paul arbeitet zurzeit an einem besonderen Ort: im Gropius Bau, wo Kunst normalerweise nicht entsteht, sondern eher ausgestellt wird. Durch das Kellergeschoss des Hauses führt sie uns über eine lange Wendeltreppe nach ganz oben in ihr Atelier. Als wir den hellen Raum betreten, ist er erfüllt von Geigenmusik. Ayumi spielt schon Geige seitdem sie Kind ist, allerdings sind ihre Konzerte anders als die, die in großen Sälen vor vielen Menschen gespielt werden. Das Konzert, das Ayumi uns vorstellt, hat sie auf einem ehemaligen Tennisplatz gespielt und ihr Publikum waren 50 helle, runde Steine. Ayumi erklärt uns, dass Steine Musik vielleicht nicht mit Ohren hören, aber dafür fühlen können: Die Vibration der Musik versetzt die Luft in Schwingung und schreibt sich in alle Lebewesen und Objekte in der Umgebung ein. Steine sind Speicher von besonders vielen verschiedenen Klängen, Orten und Begegnungen, weil die meisten von ihnen schon sehr lange auf der Welt sind und deshalb bereits viel erlebt haben.
Doch nicht nur Steine, auch andere Objekte haben ihre ganz eigenen Geschichten. Ayumi zeigt uns ein großes und schweres Kleid, das aus unzähligen unterschiedlichen Stoffstücken besteht. Die Stoffe – oft Kleidungsstücke – hat Ayumi von verschiedenen Frauen zusammen mit einer dazugehörigen Geschichte geschenkt bekommen und das Kleid daraus genäht. Zum Beispiel gibt es da eine Leggings, die sich eine Frau gemeinsam mit ihrer besten Freundin gekauft hat. Irgendwann haben sich die beiden so sehr verstritten, dass sie keinen Kontakt mehr hatten. Trotzdem hat die Frau ihre ehemalige beste Freundin noch sehr gerne. Die Leggings erinnert sie daran und ist ihr deshalb sehr wichtig. Ein anderes Stück, das Ayumi noch nicht vernäht hat, stammt von einer Anwältin, die zu einem Treffen mit vielen anderen Anwälten gehen musste. Sie war sehr nervös, weil sie wusste, dass sie die einzige Frau sein würde, da damals noch nicht so viele Frauen Anwältin wurden. Um sich selbst Mut zu machen, kaufte sie sich ein teures und schickes Kleid, das sie bei dem Treffen beschützt hat wie eine Ritterrüstung.
Das zusammengenähte Kleid dient Ayumi als Partitur, also als Vorlage für ein Musikstück, das viele verschiedene Stimmen zusammenbringt. Für jedes geschenkte Stück Stoff hat Ayumi ein Lied geschrieben, sodass das Kleid ein ganzes Konzert in sich trägt. Wenn Ayumi das Konzert spielt, trägt sie die Partitur am eigenen Körper, auch wenn sie sehr schwer ist durch all die Stoffe und Geschichten.
Als Ayumi uns die Stoffe zeigt, sehen wir, dass ein Kreis auf ihren Arm tätowiert ist und fragen sie, was das bedeutet. Ayumi verrät uns, dass sie Kreise gerne mag, weil sie kein Ende haben. Und das passt wirklich gut, weil die Geschichten der Frauen, die sie gesammelt hat, durch ihre Kunst auch für immer lebendig bleiben.