Nadine Schemmanns Farbgefühle
Nadine Schemmanns Atelier ist auf eine ganz besondere Art leise. Das liegt sicher an ihrer sanften Stimme und dem wachen, nachdenklichen Blick, aber auch an dem Raum selbst. An der Wand hängen wenige Stoffe, auf denen fließende Farben und Formen zu sehen sind. Die restlichen Arbeiten sind sorgsam in einer Ecke gesammelt und ansonsten ist der Raum fast leer – ein Schreibtisch mit einigen Büchern und ein anderer, auf dem Pinsel, Flaschen und Tuben akkurat aufgereiht sind.
Nadine hat ursprünglich Design studiert und dann als Illustratorin für Modemagazine und Werbeagenturen gezeichnet. Dabei hat sie anfangs hauptsächlich am Computer gearbeitet und Pinsel und Farbe eher behutsam eingesetzt. Inzwischen macht sie gerne abstrakte Malereien, die sie in Kunstausstellungen zeigt – ihr großer Traum ist es in den USA auszustellen, wo sie während des Studiums für ein Jahr gelebt hat. Im Herbst hat sie eine Ausstellung in Kanada und ein bisschen fühlt sie sich ihrem Traum da schon näher.
Nadine erzählt, dass es manchmal gar nicht so einfach ist, mit einer neuen Arbeit anzufangen. Sobald die ersten Tropfen auf dem Stoff zerfließen, kann sie allerdings oft gar nicht mehr aufhören. Deswegen will sie noch ganz lange Kunst machen. (Mindestens bis sie Oma ist!) Aber was hat es mit all den wabernden Formen und fließenden Farbfeldern auf sich?
Nadine verrät uns, dass sie schon als Kind Farben gesehen hat, wenn sie Menschen begegnet ist oder Musik gehört hat (diese besondere Fähigkeit, bei der sich unterschiedliche Sinneseindrücke vermischen, heißt übrigens Synästhesie). Früher dachte sie, das sei seltsam und wollte deswegen mit niemandem darüber sprechen. Nach und nach hat sie sich aber mit dieser besonderen Fähigkeit angefreundet und sich dazu entschieden, ihre Farbeindrücke zu sammeln und festzuhalten. Manche der bemalten Stoffe spannt sie auf Keilrahmen, während sie andere nur an einem oder zwei Punkten befestigt. Sie schweben dann wie geisterhaft fließende Skulpturen an der Wand oder in der Mitte des Raums und zeigen nur einen Bruchteil der Malerei. Durch die Kombination der aufgespannten und skulpturalen Arbeiten ergibt sich dann ein Ganzes, sagt sie – denn auch wenn wir uns begegnen, gibt es immer etwas Festes, Angespanntes und etwas, das fließt und ganz weich und entspannt ist.
Als Nadine merkt, dass es uns zwischen all den Farben selbst in den Fingern juckt, bekommen wir unsere eigenen Stoffstücke und dürfen uns ausprobieren. Statt Pinseln gibt sie uns Pipetten, also feine Glasröhrchen, in die wir die Farbe einsaugen und anschließend auf den angefeuchteten Stoff träufeln. Die Farbe verbreitet sich im Nu und entwickelt ein buntes Eigenleben. Nach dieser Übung rollt Nadine eine große Stoffbahn aus, die wir alle gemeinsam mit Farbspritzern und Tupfen übersäen und anschließend mit unseren Händen bearbeiten. Auch wenn unser Bild am Ende sehr viel bunter und wilder aussieht als die sorgfältig komponierten Arbeiten von Nadine, hat es doch auch leisere Stellen und erzählt ebenso von den Begegnungen unterschiedlichster Farben, Stimmungen und Geschwindigkeiten. Nur schweren Herzens können wir uns von den Pipetten loseisen, um den Heimweg anzutreten. Nadine verabschiedet uns auf dem langen Flur zum Treppenhaus mit einem fröhlichen Lächeln und wir sind uns sicher – ihre Erinnerung an uns ist bunt!