Andere Linien zeichnen mit Christian Diaz Orejarena
Heute besuchen wir Christian Diaz Orejarena in seinem Atelier in Britz. Kurz sind wir unschlüssig, wo sich der richtige Eingang befindet, aber eine freundliche Männerstimme lotst uns ans Ziel – und dort am Treppenabsatz steht Christian und begrüßt uns herzlich. Er zeigt uns sein Atelier und erklärt, dass in den restlichen Räumen andere Künstler*innen tätig sind. Heute haben wir aber sturmfrei und die ehemalige Wohnung sowie die sonnige Terrasse für uns!
Zuerst versammeln wir uns in Christians Reich und inspizieren alles ganz genau. An den Wänden kleben einige beschriftete Post-Its und gegenüber hängen sonderbare Masken und bemalte Pappschilder. Außerdem entdecken wir comicartige Zeichnungen. Die interessieren uns besonders, denn fast alle lesen regelmäßig Comics. Macht Christian etwa selbst welche?
Der Künstler erzählt uns, dass er Grafikdesign und dann (Medien- und Konzept-)Kunst in Wien studiert hat. Während des Studiums hat er viele Filme gemacht (und auch aktuell arbeitet er an einem). Allerdings sind auch kurze Videos sehr aufwändig, denn alles muss irgendwie vor die Kamera kommen; digital oder real gebaut oder gespielt werden. Viel einfacher ist es beim Zeichnen, denn da können die wildesten Erzählungen und Figuren auf dem Papier entstehen! Christian zeichnet schon seit seiner Schulzeit richtig gerne und viel (oft auch im Unterricht). Er sagt, letztendlich ist ein Comic eigentlich wie ein Film, bloß mit gezeichneten Bildern – also ein gutes Format, um Geschichten zu erzählen.
Eine komplexe Geschichte, die Christian gerne erzählen wollte, hängt mit seiner eigenen zusammen: Denn Christian ist zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen, sein Vater aber kommt aus Kolumbien. (Da wir nicht ganz sicher sind, zeigt uns Christian auf der Weltkarte, wo das südamerikanische Land liegt.) Als junger Mann ist sein Vater zum Studieren nach Deutschland gekommen, hat Christians Mama kennengelernt und ist bis heute geblieben. Und obwohl Christian zur Hälfte Kolumbianer ist, hatte er lange Zeit keinen richtigen Bezug zu Land und Leuten, da er nie dort gelebt hat und seine kolumbianische Familie kaum kannte. Nach der Schule wollte er das ändern: Er reiste nach Südamerika und in das Dorf, aus dem sein Vater kommt. Vor Ort hat er ganz viel über die Region gelernt und herausgefunden, was ein Deutscher aus dem 19. Jahrhundert mit ihr zu tun hat. Denn dieser Mann hat einige gute, aber auch schlimme Dinge getan, die bis heute Auswirkungen auf das Leben dort haben!
Anfangs hat Christian alles Gehörte nur wie ein Schwamm aufgesogen, dann langsam eine zusammenhängende Geschichte entwickelt, oft mit Freund*innen drüber gesprochen und erst viel später angefangen zu zeichnen. Zuerst sollte aus dem Projekt nur ein kleines Heft werden, dann ein kurzer Vortrag mit Bildern… und jetzt zeigt uns der Künstler mit einem verschmitzten Grinsen ein richtiges Buch: „Otras Rayas“ (das ist Spanisch und heißt übersetzt „Andere Linien“). Insgesamt fünf Jahre hat Christian daran gearbeitet, sagt er. Die Zeichnungen für das Buch hat er auf großen Papierbögen gefertigt, sie gescannt und verkleinert.
Wir gucken uns nochmal um und entdecken: Das Bild vom Buchcover hängt direkt über Christians Schreibtisch! Und die bunte Stoffmaske schräg gegenüber, die mit dem langen Rüssel und den großen Ohren, taucht immer wieder im Buch auf. (Christian verrät uns, dass man ganz frech sein darf, wenn man sie trägt. Wenn er die Maske bei Buchpräsentationen trägt, ist er meist auch ein bisschen mutiger und weniger aufgeregt – sogar dann, wenn Christians Papa, der im Buch vorkommt, im Publikum sitzt.) Die Pappmasken und -schilder hingegen sind Teil eines Projekts, für das er mit kolumbianischen Jugendlichen gearbeitet hat. Die Zusammenarbeit hat ihm besonders viel Spaß gemacht; das Projekt ist aber noch nicht komplett abgeschlossen. Hierfür sind nämlich die beschriebenen Zettel an der Wand. Christian hat alles aufgeschrieben, was wichtig und Teil davon ist, damit er den Überblick nicht verliert und besser entscheiden kann, wie es weitergehen soll – eine Art Mindmap.
Christian erzählt uns, dass er viel über die Frage nachdenkt, was Kunstmachen überhaupt ist. Er ist der Meinung, dass Kunst ein besonderer Bereich ist, in dem Geschichten Platz finden, die sonst untergehen oder im Alltag keine Beachtung bekommen. Er findet es wichtig, einen Raum zu schaffen, in dem man auf unterschiedliche Weisen auf die Welt sehen kann – und genau dafür hilft die Kunst.
Und seit wann macht er schon Kunst? On und off ungefähr 25 Jahre, überschlägt Christian. (Wir schätzen Christian auf 30, aber er gibt zu, dass er schon 40 Jahre alt ist.) Also hat er als Jugendlicher angefangen! Manchmal verdient er mit der Kunst Geld, manchmal bekommt er keins und arbeitet trotzdem weiter, weil er es so wichtig findet. Manchmal macht er andere Jobs (zum Beispiel als Grafikdesigner oder er hilft bei einem Film), um Geld zu verdienen und manchmal hat er ein Stipendium, so dass er die ganze Zeit nichts anderes als Kunst machen kann. Das ist besonders toll!
Wie viel Spaß man mit der Kunst haben kann, zeigt er uns mit einer Übung: Christian hat kleine Hefte vorbereitet, in denen Kollektivcomics entstehen sollen. Das funktioniert ein bisschen wie das Spiel „Cadavre Exquis“, bei dem man immer nur einen (Körper-)Teil zeichnet, das Gezeichnete zusammenklappt und das Papier an eine nächste Person weitergibt. Dabei entstehen immer ganz verrückte Figuren! Wir wenden das Prinzip nun auf Comics und Geschichten an, die wir gemeinschaftlich erarbeiten. Auf Post-Its sammeln wir jeweils drei Wörter (ein Substantiv/Nomen, ein Verb/Tuwort, ein Adjektiv/Wiewort), die uns als Inspiration für unsere Geschichten dienen sollen. Und dann geht es auch schon los: Jede*r fängt auf der ersten Innenseite an und reicht das Heft nach einer Minute weiter. Auf der zweiten Seite erzählt die nächste Person die Geschichte weiter und die nächste noch weiter… und darf nicht zurückblättern. Als die Hefte voll sind, tragen wir uns die Comics gegenseitig vor. Manche von uns sind ein bisschen enttäuscht, weil die begonnene Geschichte nicht so ausgegangen ist, wie zu Beginn vorgestellt. Aber genau das macht die Comics besonders komisch – sie handeln von frierenden Diamanten, riesigen Gameboys, zerstrittenen Geschwistern und (verpassten) Torchancen.
Und so lustig und souverän wie wir sie vortragen, könnte man fast denken, wir hätten alle Christians Karnevalsmaske getragen…