Kühlschrankpoesie – Den Ideen einen Weg nach draußen zeigen
Eine klassische Museumssituation: Eine Gruppe von Menschen steht vor einem abstrakten Kunstwerk, eine Führung findet statt, betrachtet wird ein weißes Quadrat mit blauen Punkten. „Und was sehen wir hier?“ wird gefragt. Und obwohl die Antwort auf die Frage ganz einfach ist (ein weißes Quadrat mit blauen Punkten), traut sich niemand etwas zu sagen. Stille. Es fällt oft schwer, beschreibende Worte zu finden, wenn man über abstrakte bzw. zeitgenössische Kunst sprechen möchte. Man hat Angst, etwas Falsches zu sagen und sein Unwissen über die „wirkliche“ Bedeutung des Kunstwerkes preiszugeben. Erwachsenen fällt das meist noch schwerer als Kindern.
Eine Methode, die Abhilfe schaffen kann, ist ein Wörterpool – oder eben: Kühlschrankpoesie. In unserem Kusama Kids Studio im Gropius Bau haben wir im Rahmen der Ausstellung „Yayoi Kusama: Eine Retrospektive“ eine quasi überdimensionale Kühlschrankposie-Ecke geschaffen, bei der Substantive auf große Holzlatten geschrieben und in Einzelteile zersägt wurden. Kleine und große Besucher*innen können diese Schar an Worten nun neu zusammenfügen, wieder auseinander schieben, ersetzen – beliebig oft und in unendlich vielen Kombinationen.
Einige Begriffe stammen dabei von Yayoi Kusama selbst, die in ihrer Biografie in Gedichten und Liedern eine überraschend poetische Sprache benutzt, die oft ein Schlüssel zum Verständnis ihrer Werke ist. „Es sind aber auch Worte, die assoziativ auftauchen, wenn man sich die Werke von Yayoi Kusama anschaut“, erklärt Michaela Englert, Workshopleiterin im Kusama Kids Studio. Die Wörter sind wie ihre Gedichte: wild, lustig, aufregend und sehr poetisch. Neben offensichtlichen Worten wie „Punkt“ und „Pinsel“ tauchen auch Begriffe wie „Freiheit“, „Unendlichkeit“ oder „Stille“ auf. Der Effekt dabei: Die Klötzchen dienen als Brücke, als erster Ansatzpunkt zu einem Gespräch oder Gedankengang. Sie funktionieren auf beschreibender, aber auch auf emotionaler Ebene. Es kann sehr erleichternd sein, wenn man von Bild zu Wort wechselt und hier Assoziationen schafft. Zusätzlich entlastet es, zunächst über die subjektive Wahrnehmen von abstrakter Kunst zu sprechen, denn hier gibt es kein richtig oder falsch. „Es ist ein Ziel von uns, im Kusama Kids Studio ins Sprechen über die gesehene Kunst zu kommen, also einen Dialograum zu schaffen“, erklärt Michaela Englert weiter. Das Gesehene wird in eine eigene Logik gebracht, neue Zusammenhänge werden geschaffen, Kunst indirekt rezipiert.
Sich mit Kühlschrankpoesie über Kunst auszutauschen öffnet ganz neue Gedankenräume. Ein Beispiel: Nimmt man die Worte „Träne“ und „Haus“ entsteht daraus das neue Wort „Tränenhaus“ – „Aber wenn jetzt jede*r beschreiben müsste, was das genau ist, dann wäre es wahrscheinlich jedes Mal etwas anderes“, erklärt Rebecca Raue, künstlerische Leiterin bei Ephra. Ein Haus aus Tränen gebaut? Ein Haus, in dem viel geweint wird? Ein blaues Haus? Es ist einerseits eine Verdichtung, weil das einzelne Wort bereits eine bestimmte Zuschreibung hat, andererseits ergibt sich eine Erweiterung, in der Kombination etwas völlig Neues und Poetisches.
Denkt man weiter darüber nach, entstehen aus dem spielerischen Umgang mit den Worten immer neue Zugänge zu Kunst. „Im Raum einmal hingelegt, funktionieren diese Wortkombinationen als Botschaften an den*die nächsten Besucher*innen,“ erklärt Maxi Böhme, Projektleiterin des Programms. Mit welcher Inspiration ist mein*e Vorgänger*in aus der Ausstellung gekommen? Warum wurden gerade diese Worte ausgewählt?
Eine Erweiterung wäre es auch, auf die Rückseiten der Blöcke die Übersetzung des jeweiligen Wortes in eine andere Sprache zu schreiben. Oder: leere Holzblöcke zur Verfügung stellen, die selbstständig beschriftet werden. Oder in der Gruppe: sich ein Wort nehmen, nach dem man sich gerade fühlt. Oder auch: Ein neues Gedicht aus drei Worten schaffen. Oder, oder, oder... Gerade für Gruppenangebote in Museen bietet diese Methode immens viele Möglichkeiten.
Und wenn man nicht lesen kann? Auch dafür gibt es laut Rebecca Raue eine Lösung: „Die Kinder spielen es mit jemandem, der oder die lesen kann. Die Kleinen bauen dann etwas und die Großen lesen vor. Dann betrachtet man es mehr als Rate-Spiel,“ erklärt sie. Dadurch dient die Kühlschrankpoesie als gutes Tool für einen intergenerationellen Austausch: Erwachsene und Kindern kommen zusammen und können gemeinsam bauen, vorlesen und auf neue Ideen kommen.
Es sind nur Worte auf Holz, aber die Möglichkeiten scheinen unendlich vielfältig. Es ist wie mit dem großen Karton, in dem das tolle neue Spielzeug verpackt ist: Am Ende ist der einfache Karton der eigentliche Star, wird zur Garage, zum Haus, zu Hundehütte, ständig neu bemalt und umgebaut. Oft entstehen aus den einfachsten Dingen die kreativsten Momente. Gerade diese Methoden sind es, die in der Arbeit mit Kindern so wirkungsvoll sind. Denn die Ideen im Kopf sind alle schon da, jemand muss ihnen nur den Weg nach draußen zeigen.